Montagmorgen, 6.30 Uhr, irgendwo auf der Welt: Die Produktion steht. Eine Maschine ist ausgefallen. Der Bediener greift nach seiner Augmented Reality-Brille und stellt den Kontakt zu Harro Höfligers Customer Service in Allmersbach, Deutschland, her. Dort sitzt ein Experte, der sich via Fernwartung auf die defekte Maschine aufschalten und durch die Datenbrille des Bedieners – quasi mit dessen Augen – sehen kann, wo es hakt.
Schritt für Schritt leitet er ihn aus der Ferne bei der Suche nach dem Fehler an und kann dabei Bilder, Videos und sogar dreidimensionale Hinweise wie Texte, Pfeile und CAD-Zeichnungen in die Datenbrille einblenden, um den Bediener optimal zu unterstützen. Ist das Problem identifiziert, kann er detaillierte Anweisungen zur Behebung geben, eventuell notwendige Ersatzteile sofort auf den Weg bringen oder – falls es gar nicht anders geht – den Vor-Ort-Einsatz eines Servicetechnikers umfassend vorbereiten.
Luise Räuchle, Product Manager beim Customer Service von Harro Höfliger, spricht Klartext: „Ungeplante Maschinenstillstände sind der Albtraum unserer Kunden. Deshalb besteht hier für uns der größte Handlungsbedarf. Mithilfe von digitalen Lösungen, wie Fernwartung kombiniert mit Augmented Reality, können wir Maschinenstillstände möglichst kurz halten und ermöglichen es unseren Kunden, flexibel und schnell auf Probleme zu reagieren.“
Im Fokus steht die Nutzung von digitalen Lösungen, um bestehende Methoden kontinuierlich zu verbessern und damit einen Mehrwert für Kunden zu schaffen. „Letztlich“, so Fabian Elsässer, Director Engineering and Technical Services bei Harro Höfliger, „stellen wir uns bei allen Industrie 4.0-Lösungen zunächst die Frage, welchen Mehrwert sie für unsere weltweiten Kunden generieren. Sinnvolle Konzepte verfolgen wir weiter und passen sie auf die Bedürfnisse im pharmazeutischen Umfeld an.“
Show, don’t tell
Im Themenfeld Augmented Reality beispielsweise arbeiten die Spezialisten bei Harro Höfliger derzeit an vier Service-Initiativen. Neben dem Remote Support – also der Unterstützung des Kunden bei der Fehlerbehebung im laufenden Betrieb – stehen die Themen Augmented Maintenance, Augmented HMI und Augmented Changeover im Fokus. Alle Aspekte werden in einer Wissensdatenbank zusammengeführt.
Räuchle: „Mithilfe von Smart Devices können wir Bedienern einen Formatwechsel zeigen, anstatt ihn aufwändig zu erklären. Das hält den Schulungsaufwand bei Personalwechseln gering und hilft, Sprachbarrieren effizient zu umgehen.“ Gleiches gilt für Wartungsanleitungen, erklärt sie weiter: „Momentan erstellen wir für unsere Kunden Wartungspläne. In Zukunft ist es vielleicht effizienter, ihnen Videos zur Verfügung zu stellen, die eine Wartung Schritt für Schritt erklären. Vorstellbar sind auch 3D-animierte Wartungsanleitungen.“
„Mithilfe von Smart Devices können wir Bedienern einen Formatwechsel zeigen, anstatt ihn aufwändig zu erklären. Das hält den Schulungsaufwand in Grenzen.“ Luise Räuchle, Product Manager beim Customer Service
Auch Augmented Maintenance zielt darauf ab, Kunden bei der Wartung ihrer Anlagen mithilfe innovativer Technologien mit Know-how aus dem Maschinenbau zu unterstützen. Und mit Augmented HMI hat der Anlagenbediener alle für ihn relevanten Informationen für den reibungslosen Produktionsbetrieb künftig immer im Blick.
Neue Themenfelder erforschen
In der 2018 geschaffenen Abteilung IoT Lösungen bei Harro Höfliger arbeitet ein ganzes Scrum-Team an der Applikation von digitalen Lösungen im Pharmaumfeld. Die Erforschung neuer Themengebiete ergänzen sie zudem durch Abschlussarbeiten von Studenten unterschiedlichster Fachrichtungen.
Elsässer: „Wir arbeiten seit Jahren intensiv mit Hochschulen zusammen und haben durch deren Arbeiten schon wertvolle Anregungen erhalten.“ So beschäftigte sich eine Arbeit mit dem Einsatz von virtuellen Assistenten wie sprachgesteuerten Chatbots zur Unterstützung von Aufgaben des Bedieners an einer Maschine. Räuchle: „Das augmentierte Avatar Robbie fungiert bei einer Videoanleitung zum Formatwechsel als Audioguide. Das hat den Vorteil, dass der Bediener nicht navigieren, sondern einfach nur zuhören muss und Robbie Fragen und Befehle direkt entgegennimmt.“
Training für die Netzwerke
Ein wichtiges Fokusthema, von dem Kunden in Zukunft profitieren werden, ist auch die mithilfe von Deep Learning-Methoden optimierte Bildverarbeitung. Hartwig Sauer, Department Leader Vision Systems bei Harro Höfliger, erklärt: „Rund 70 Prozent unserer Maschinen sind mit Kameras ausgestattet. Sie arbeiten mit traditioneller regelbasierter Bildverarbeitung.“ Hierbei werden ein oder mehrere Objekte im Bild kontrastiert und mithilfe von Kantenfindern oder Schwellwertverfahren vereinzelt, um sie zu prüfen. Mit regelbasierter Bildverarbeitung können sehr genaue Messungen realisiert werden.
„Deep Learning ersetzt nicht die regelbasierte Bildverarbeitung, ist aber eine wertvolle Ergänzung dazu.“ Hartwig Sauer, Department Leader Vision Systems
Auch das Lesen und Dekodieren von 2D Codes ist damit möglich. Sauer: „Mit dieser Methode ist es allerdings häufig schwierig, bei komplexen Oberflächenstrukturen Schwankungen oder Abweichungen zuverlässig zu erkennen. Hier liegen die Vorteile von Deep Learning.“ Bei Deep Learning-Methoden lernt das neuronale Netz anhand von unzähligen Beispielbildern Anomalien zuverlässig zu erkennen. Kosmetische Defekte wie beispielsweise Kratzer, Flecken und Verschmutzungen sind typische Anwendungen für eine solche Bildverarbeitung.
Darüber hinaus arbeiten Sauer und sein Team an Applikationen, die beim Erkennen einer Unregelmäßigkeit aktiv in die Maschinensteuerung eingreifen, um Werte nachzujustieren. Sauer: „Deep Learning ersetzt nicht die regelbasierte Bildverarbeitung, ist aber eine wertvolle Ergänzung dazu.“
Mehr Sicherheit beim Engineering
Auch im eigenen Engineering hat Harro Höfliger Industrie 4.0- Lösungen etabliert. Elsässer: „In unserer Gruppe Model Based Engineering arbeiten wir an der virtuellen Inbetriebnahme unserer Maschinen.“ Dabei geht es nicht darum, eine komplette Anlage virtuell in Betrieb zu nehmen, sondern man fokussiert sich auf mechatronische Einheiten, bei denen im Vorfeld bekannt ist, dass besondere Herausforderungen zu meistern sind.
Elsässer: „Mithilfe des digitalen Zwillings dieser ‚kritischen‘ Einheiten können wir schon sehr früh in der Entwicklung sicherstellen, dass die Einheit funktioniert. Das spart Zeit und Kosten und führt dazu, dass es am Ende eines aufwändigen Entwicklungsprozesses keine unliebsamen Überraschungen gibt.“
„Die Zeit des Buzzwordings ist vorbei. Es gibt Ideen und Lösungen, die uns und unseren Kunden bereits jetzt oder in Zukunft große Vorteile bieten.“ Fabian Elsässer, Director Engineering and Technical Services
Bei allen Lösungskonzepten stehen die Spezialisten bei Harro Höfliger vor einer großen Herausforderung: Im Sondermaschinenbau lassen sich entwickelte Konzepte nicht ohne Weiteres von einer Maschine auf eine andere übertragen. Durch die Vielzahl an Einzelstücken ist der Aufwand für Pflege und Sicherstellung der Aktualität von digitalen Lösungen nicht allein von Entwicklern zu leisten.
Bei Harro Höfliger setzt man daher auf kollaborative Lösungen zum Knowledge Management. Nicht nur der Entwickler stellt sein Wissen zur Verfügung, sondern jeder einzelne Bediener zeichnet einmal durchgeführte Handlungen auf und stellt sie in die Wissensdatenbank ein. So haben die Kollegen jederzeit Zugriff darauf und erweitern ihre Fähigkeiten.
Für Fabian Elsässer und seine Kollegen ist die Richtung, die Harro Höfliger in Sachen Industrie 4.0 gehen wird, klar: „Die Zeit des Buzzwordings ist vorbei. Es gibt Ideen und Lösungen, die uns und unseren Kunden bereits jetzt oder in Zukunft große Vorteile bieten. Unsere Aufgabe ist es, diese Technologien zu identifizieren und weiterzuentwickeln. Unsere Kombination aus Maschinen-Know-how und Expertise im Pharmaumfeld hilft uns, neue digitale Konzepte zu beurteilen, mit denen wir bestehende Methoden und Prozesse weiter verbessern können.“
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Illustrationen: Bernd Schifferdecker, Fotos: Privat, Janine Kyofsky